Jan Scharrelmanns vor Ort geschaffene Skulpturen zwingen den Betrachter »zwischen die Fronten«.
Sein aktuelles plastisches Konzept basiert auf einer ungewöhnlichen, auch inhaltlich komplexen Synthese
der eingesetzten Werkstoffe: doppelwandig verlegte Dämmmatten aus Hanf- und Schurwollfasern sind durchwirkt von dicken Lagen aus pigmentiertem Epoxydharz. Erst der gehärtete, spiegelnde Überzug verleiht dem Kernstück des pelzigen Mattengefüges Halt und Struktur.
In jüngster Zeit fügt der Künstler je zwei trapezoide Schenkel zu raumhohen Skulpturen zusammen.
Mit ihrem asymmetrischen Bau und den schrägen Neigungswinkeln reagieren sie auf die Spezifika des Ausstellungsraumes und legen neue, nicht selten desorientierende Blickachsen und Bewegungsschneisen an. Dabei scheinen die schwerkraftbedingt sich durchbiegenden Plattenfronten dem statischen, berechenbaren Wesen aller »Konstruktion« Hohn zu sprechen. Der Galeriebesucher erlebt eine Konkurrenz von Anziehung und Bedrohung, von Engung und Weitung, die sich zwischen den monumentalen Doppelflügeln und den dynamischen Vektoren ihrer Fugensysteme und freistehenden Kanten entspinnt.
Zugleich versteht Jan Scharrelmann die skulpturalen Elemente als Träger von bildhaften Wirkungen. Er unterstreicht die konstruktionsbedingte Spannung durch eine an alchimistische Prozesse gemahnende Einfärbung der aufgebrachten Epoxydschichten. Fluktuierende Aluminium-, Graphit- oder Farbpigmente vollziehen den Fluss der Harzmassen nach und verleihen der einst wattigen Oberfläche eine schillernde, raumhaltige, geradezu hologrammatische Qualität. Man denkt an phantastische geologische Strukturen, an die Oberflächen unerschlossener Planeten in fremden Galaxien. Assoziationen dieser Art konterkarieren die faktische Wucht und Masse des plastischen Gegenübers.
Die spiegelnde Harzhaut ist zum einen als Membran des Übergangs zwischen »innerer« und »äußerer« Weite erfahrbar, zum anderen scheint sie die organischen und auch spirituellen Energien der archaischen Naturmaterie zu bewahren und zu versiegeln. Im Angesicht dieser Membran und im Mitleben ihrer Bewegungssuggestionen gewahrt der Betrachter auch sein eigenes Bild und gewinnt ein neues, von der Plastik reflektiertes Bild der Geschehnisse im Ausstellungsraum. In seiner Gespiegeltheit ist der Raum – trotz aller plastischen Dynamik – der Realität weitgehend enthoben und in eine primär visuelle Erscheinung verwandelt: Sichtbarkeit und Greifbarkeit der Dinge treten auseinander. Das Resultat ist die Empfindung einer Ort- und Schwerelosigkeit, einer Unbestimmbarkeit in Hinsicht auf den eigenen Standpunkt und die eigene räumliche Entfaltung.
Auch im Rahmen seiner großformatigen Papierarbeiten versteht Scharrelmann das Epoxydharz nicht nur als Malmittel, sondern zugleich als skulpturale Substanz. Bereits in früheren Werken reichten zuweilen gegossene oder geschleuderte Harzlachen aus, um ein Wand- oder Bodenrelief zu konstituieren. Nun wählt der Künstler asymmetrisch konturierte Bögen von Teerpappe zum Träger der dunklen, mit Graphitpigmenten versetzten Harzschwemmen. Die glänzende Masse lässt den Bildgrund in weiten Teilen frei und greift oftmals in schlierigen Säumen über den Blattrand hinaus. Denkbar sinnfällig scheinen hier die Grenzen zwischen Bild und Objekt, zwischen Raum und Fläche »verwischt«.
So fordern Jan Scharrelmanns Arbeiten in der prekären Balance ihrer Konstruktion nicht nur das leibräumliche Orientierungsvermögen des Betrachters heraus, sondern eröffnen mit ihrer Assoziationsbreite, mit ihrer Fülle widerstreitender Sinnesreize und ihrer gleichsam implodierenden Massenenergie auch die Frage nach seiner mentalen und spirituellen Befindlichkeit. Die Bildwerke heben den Betrachter aus pragmatischen, rational bestimmten Verhaltenssystemen heraus. Demjenigen, der sich auf solche Erfahrungen und Erlebnisse einlässt, offenbaren diese »remedies« womöglich auch ihre im Titel beschworene Heil- und Hilfskraft.
Kathrin Elvers-Svamberk, 2003